AGSD hat von der NZZ die Erlaubnis Artikel zu veröffentlichen, die im Zusammenhang mit Scientology stehen.

11.02.2021 | NZZ | Stefan Hentz

Er hat in der Musik die Freiheit gesucht und gefunden: Jazzpianist Chick Corea 79-jährig gestorben

Chick Coreas pianistischer Weg führte von Bebop bis zu Free Jazz, dann wählte er eine Abzweigung in den Jazzrock. All diese Erfahrungen blieben lebendig in seiner von Virtuosität und Expressivität befeuerten Musik. Nun ist der Jazzpianist 79-jährig gestorben.

In Chick Coreas Musikalität vereinten sich Gefühl, formaler Sinn und Technik.

Damals war es wie eine frische Sommerbrise irgendwo am Traumstrand, ein neuer Ton vom Plattenteller: «Return to Forever». Ein paar kristalline Töne eines E-Pianos, eine von einer vollen Frauenstimme zurückhaltend gesungene kleine Melodielinie, schliesslich Schlagzeug und Bass, Bewegung und Groove, dazu die Flöte, das ganze Ensemble.

Es war im Februar 1972, mitten im europäischen Winter, als der Pianist Chick Corea eine Band um sich versammelte, die einen Tonfall fand, der ihm schon länger vorgeschwebt hatte, leicht und schwebend, harmonisch gebunden und romantisierend, doch in den Maschen des musikalischen Gewebes immer wieder kratzig angeraut. «Return to Forever», so hiess das erste Stück des Albums, und ebenso hiessen auch das Album und die Band, die Chick Corea in den folgenden Jahrzehnten immer wieder neu formierte.

Weltstar des Jazzrock

Für Chick Corea war «Return to Forever» eine Brücke aus der Nische des Jazz in den populären Mainstream. Damals wurde er neben Musikern wie etwa Wayne Shorter oder John McLaughlin – Weggefährten aus der elektrischen Phase der Miles Davis Band – zu einem Weltstar des Jazzrock. Und zum Abschluss des Albums bot er mit der rhythmisch mitreissenden Flamenco-Spielerei «La Fiesta» bereits einen Ausblick auf die berühmteste seiner Kompositionen: «Spain», Coreas Paraphrase auf Joaquín Rodrigos «Concierto de Aranjuez».

Armando Anthony Corea, genannt Chick, wurde am 12. Juni 1941 in Massachusetts in ein musikalisches Umfeld geboren. Sein Vater, ein aus Kalabrien eingewanderter Trompeter, leitete in Boston eine Dixieland-Band und schrieb nebenbei einfache Bearbeitungen der Musik, damit auch sein Sohn nachvollziehen konnte, was da gerade geschah.

Mit vier begann der Junge Klavier zu spielen, mit acht hatte er den ersten formellen Unterricht, klassisch, das Übliche. Chick Corea eignete sich nach und nach eine makellose Technik an. Mit sechzehn gründete er in der Highschool seine erste eigene Band, ein Klaviertrio. Ausserdem arrangierte er auch Musik für andere Ensembles. Auf Hochzeitsfeiern und mit Tanzmusik in den Kasinos von Las Vegas verdiente er erstmals Geld als Musiker.

Chick Corea schrieb sich an der Columbia University in New York ein, brach das Studium aber bald wieder ab, um intensiv für die Aufnahmeprüfung der Juilliard School of Music zu üben. Kaum war er angenommen worden, verliess er auch diese renommierte Institution wieder. Immerhin wusste er nun, was er werden wollte: Jazzmusiker.

Der Pianist spielte in der Folge Latin Jazz mit Willie Bobo und Mongo Santamaria, es folgte ein Engagement beim Hardbop-Trompeter Blue Mitchell. Mit 25 Jahren wurde er Pianist im Quartett des berühmten Saxofonisten Stan Getz, zwei Jahre später spielte er an der Seite der Jazz-Ikone Sarah Vaughan. So hatte sich sein Renommee als pianistisches Ausnahmetalent in der Jazzszene gefestigt, als ihn der Ruf ereilte, in der Band von Miles Davis Herbie Hancock zu vertreten, den er später ergänzte und ganz ersetzte. An der Seite des stilbildenden Trompeters erlebte Chick Corea, wie sich Jazz nun öfter von rockigen Rhythmen antreiben und von elektronischen Sounds zu quasi psychedelischem Überschwang verführen liess.

Dem Guru ergeben

Auf dem Olymp des Jazz angekommen, las Chick Corea ein Buch, das enormen Einfluss auf seine weitere Entwicklung haben sollte: «Dianetics» von L. Ron Hubbard, dem Science-Fiction-Autor und Begründer der Psychosekte Scientology. Sein Engagement für Scientology sorgte immer wieder für Irritation und Ablehnung in der Öffentlichkeit, in Europa zumal. Chick Corea aber erklärte: «Scientology half mir, mir die Freiheit zu nehmen, so zu sein, wie ich sein wollte.» Und sein wollte er: erfolgreich, kommunikativ mit grösstmöglicher Reichweite.

Im Trio mit dem Schlagzeuger Roy Haynes und dem Bassisten Miroslav Vitous sorgte er für erste künstlerische Höhepunkte seiner Karriere: Für das Album «Now He Sings, Now He Sobs» (1968) griff er einerseits auf das Trio-Spiel à la Bill Evans zurück. Mit viel Enthusiasmus, Virtuosität und einem phänomenalen Interplay verbanden die Musiker die Tradition anderseits mit neuen Freiheiten. Auf die Fährte des Free Jazz begab sich Chick Corea sodann im Quartett Circle mit dem Saxofonisten Anthony Braxton, wo die Leinen der Tonalität weitgehend gelockert wurden.

Mit solcher Musik fand er allerdings wenig Verständnis in seiner weitverzweigten Familie, vielmehr stiess er die Verwandten damit vor den Kopf. Chick Corea leitete eine stilistische Kehrtwende ein und verabschiedete sich aus dem Feld des Jazz, um zu seinem eigenen Markenzeichen zu werden. Nun liess er sich zuweilen zu einem virtuos auftrumpfenden Technokraten-Sound hinreissen – im Zusammenspiel etwa mit dem Gitarristen Al Di Meola, der ein seelenloses Tempo hinlegte, Stanley Clarke, der vor allem mit Slap-Knallern glänzte, und dem stoischen Lenny White am Schlagzeug.

Vom Solo bis zum Orchester

Allerdings gab sich Corea damit nie zufrieden: Immer wieder suchte er auch den Gegenpart, immer wieder pflegte er auch die akustische Seite seiner Musikalität. Dabei brillierte er mitunter im Duo mit Freunden wie dem Pianisten Herbie Hancock und erst recht mit dem Vibrafonisten Gary Burton.

Sein Pianospiel bewährte sich weiterhin in den verschiedensten Spielarten und Besetzungen – ob Bebop in kleinen Combos, ob schillernder Jazzrock oder klassische Musik mit grossem Orchester. Immer wieder behauptete sich Chick Corea als einer der vielseitigsten und expressivsten Pianisten der Gegenwart, als ein Musiker, der sprühte vor Phantasie und Energie. Kein Wunder, wurde er dafür mit 23 Grammys ausgezeichnet – zuletzt 2019 für das Latin-Jazz-Album «Antidote» seiner Spanish Heart Band.

Auch während der Pandemie hielt Corea das künstlerische Feuer noch lange am Brennen mit musikalischen Botschaften aus seinem Heimstudio und mit gestreamten Tutorials. Nun ist das Feuer überraschend erloschen. Am 9. Februar starb Chick Corea an den Folgen eines seltenen Krebsleidens.

Chick Corea war einer der grössten Jazzpianisten der Gegenwart.